Ein tragischer Lauf

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Haschgetüm
Platin-User
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 10:29    Titel: Ein tragischer Lauf Antworten mit Zitat

Es war ca. 1995, als die Bundesjugendspiele stattfanden.
Mein großer Bruder war einer der Top-Sportler auf seiner Schule.
Er war im Turnverein, im Leichtathletikverein und fuhr BMX-Rad wie ein Großer. Ich war neidisch auf ihn, aber auch ein bisschen stolz, dass ich einen so talentierten Bruder hatte. Er war zwar trotzdem ein Arschloch, aber wenigstens begabt.

Ich war in der dritten Klasse und er in der sechsten. Wir waren vor kurzem mal wieder umgezogen, von einer 3-Zimmer-Wohnung in ein großes Mietshaus mit riesigem wunderschönen Garten. Die harte Arbeit meines Vaters machte sich langsam bezahlt.

Ich stand vorne an der Tribüne und sah meinem Bruder zu, wie er in einem Affentempo die 1000 Meter lief. Er kam als erster durchs Ziel und wir alle jubelten.
Es sollte der letzte glückliche Moment meines Bruders sein, an den ich mich erinnern konnte.

Einige Wochen später fuhren wir in den Urlaub ins Allgäu. Mein Vater versuchte ständig meine Mutter zu erreichen, aber die schien nicht zu Hause zu sein. Wir brachen den Urlaub daher verfrüht ab.
Kurze Zeit später eröffnete mein Vater mir, dass meine Eltern sich trennen würden. Während ich direkt anfing zu heulne, schien mein Bruder unberührt.
Er wusste es längst.

Wir zogen mit meiner Mutter in eine kleine 3-Zimmer-Wohnung. Im Erdgeschoss befand sich ein Pizzalieferservice, sodass es immer noch Pizza roch, wenn wir die Fenster öffneten. Nebenan war ein Asylantenheim für Jugoslawien, die aus dem Krieg flohen.
Meine Mutter arbeitete von da an dort in der Küche. Danach ging sie in einem Krankenhaus putzen. Wenn sie nach Hause kam, trank sie.
Sie war vollkommen fertig und ließ ihren ganzen Hass an ihren zwei Kindern aus.
Nach einem Jahr hielt mein Bruder es nicht mehr aus. Er zog zu meinem Vater und ließ mich mit meiner Mutter zurück.
Es waren furchtbare Jahre für uns alle.

Wir zogen immer wieder um und auch mein Bruder, den ich nur noch selten sah, hatte große Probleme. Er fing an zu kiffen und nahm immer weiter an Gewicht zu. Er flog vom Gymnasium auf die Hauptschule und verlor jegliches Interesse am Leben. Mein Vater kam damit nicht zu Recht, war sehr streng und autoritär. Seine neue Frau war ebenfalls überfordert.
Die Drogenkarriere meines Bruder endete vorerst im Jahr 2003.
Er wurde von der Polizei in die Landesnervenklinik eingewiesen.
Als ich ihn besuchte, erkannte ich ihn nicht wieder.
Er war blass, spindeldürr und als er mich sah, brach alles aus ihm raus. Er heulte und schrie und heulte und konnte nicht mehr aufhören.
Wenn ich daran denke, fange auch ich an zu weinen.
Mein Bruder war gebrochen. Er erholte sich nie wieder.

Heute sieht man ihn manchmal am Kaufland, wie er Zigaretten aus den Aschenbechern einsammelt. Er bekommt Grundsicherung und wird nie wieder arbeiten gehen können. Die Psychose verläuft chronisch und auch seine Abhängigkeit wird immer schlimmer.
Vor 3 Jahren hat man ihn tot aufgefunden. Die Sanitäter konnten ihn wiederbeleben. Ich versuchte ihm zu helfen, doch er drohte immer wieder mit Suizid. Monate lang rief ich ihn täglich an, um zu überprüfen, ob er noch lebt.
Irgendwann konnte ich das nicht mehr.
Ich war mittlerweile selbst drogenabhängig geworden und auch ich erlitt eine Psychose. Ich musste aufhören meine Familie retten zu wollen.
Ich habe ihn seit 2 Jahren nicht gesprochen.
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Soltau
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Anmeldungsdatum: 06.11.2014
Beiträge: 1628

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 10:49    Titel: Antworten mit Zitat

Deine Geschichte ist sehr traurig Haschi. Wenn ich das richtig verstanden habe lebt dein Bruder noch. Was ist aus deinen Eltern geworden? (wenn du das erzählen magst)

Eine Wut ist angemessen auf diese Eltern, die sich nicht erster Linie um ihre Kinder kümmerten, die als beschützungsbedürtig gelten. Diese Eltern haben vollkommen in ihrer Aufgabe versagt. Haschi du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, wenn du nicht die Kraft hast deinem Bruder bei zu stehen; er ist erwachsen und mittlerweile selbst für sein Leben verantwortlich. Geh achtsam und vorsichtig mit dir selbst um.

Vielleicht hilft es dir, wenn du dich hin und da an ein paar schöne Begebenheiten aus deiner Kindheit erinnerst, die es bestimmt auch gegeben hat.
Die Vergangenheit hat dich zu diesem jetztigen Moment gebracht und nun kannst du dein Leben selbst gestalten, wie es dir gut tut. Und wenn wir uns noch so ärgern oder traurig sind, die Vergangenheit wird sich dadurch nicht verändern.
Versuch nicht in alten Gedanken zu hängen, es nutzt nicht, zermürbt nur, schau nach vor und genieße die Gegenwart!

Soltau
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Haschgetüm
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 10:55    Titel: Antworten mit Zitat

Hat mich einfach beschäftigt... das Thema co-abhängigket ging mir die letzten Tage im Kopf rum. Außerdem wollte ich die Geschichte schon länger mal aufschreiben. Hab´s sehr knapp gehalten, weil es mich sonst zu sehr mitnimmt. Habe grade kurz geweint, und nun ist es wieder gut.
Ich muss damit klar kommen, dass es so ist wie es ist.
Meine Wut habe ich überwunden. Die Trauer bleibt.
Trauer nüchtern zu erleben, gehört dazu.
Meine Eltern leben auch noch, genauso wie mein Bruder.
Habe aber nur noch zu meinem Vater Kontakt.
Weißte Soltau.. was nützt mir die Wut? Es war einfach ne scheiss Situation für uns alle... keiner hat dem anderen was böses gewollt.
Wie du schon sagtest, man muss nach vorne schauen.
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Soltau
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Anmeldungsdatum: 06.11.2014
Beiträge: 1628

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 10:59    Titel: Antworten mit Zitat

Klar nutzt dir die Wut nichts Haschi, ich persönlich hab schon beim Lesen eine Wut bekommen. Ist für mich unverständlich, wenn Eltern nicht als erste Priorität in ihrem Leben ihre Kinder betrachten bis die volljährig sind. Aber jeder lebt das anders und deine Eltern scheinen auch große Probleme gehabt zu haben wo sie mit sich selbst nicht klar gekommen sind...
wie dem auch sei Haschi, du brauchst sie nicht mehr, du bist erwachsen, du kannst es in deinem Leben anders machen, wenn du mal Kinder hast oder was du eben so leben wirst.
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joe
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Anmeldungsdatum: 28.12.2007
Beiträge: 1170

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 11:22    Titel: Antworten mit Zitat

hey, vielen dank für deine geschichte.
ich komme auch aus einer suchtfamilie. heute ist mir klar, das meine eltern eben das getan haben wozu sie in der lage waren.
mehr ging da halt nicht.
das anzunehmen, und vor allen dingen auch meine handlungen mal ehrlich anzuschauen, haben mir sehr geholfen.
schliesslich bin ich nicht nur opfer, sondern habe auch etlichen schaden angerichtet.
das bringt für mich die dinge ins lot.
verständnis zu praktizieren bringt mich immer weiter als in wutzuständen und groll zu leben.
cleane 24 h
joe
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Haschgetüm
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 11:48    Titel: Antworten mit Zitat

Danke für dein Verständnis joe.. das hat grade sehr gut getan. Mir geht es ähnlich.

Soltau:
Wut bedeutet Vorwurf und Schuldzuweisung. Das wiederum bedeutet Opferrolle. Das ist nichts mehr für mich.
Meine Mutter war überfordert und psychisch labil, sie versuchte sich das Leben zu nehmen. War depressiv und trank. Es war nicht ihre Schuld... Klar hätte sie sich helfen lassen müssen, aber das konnte sie nicht, sie war ganz alleine mit uns.
Mein Vater hat nicht viel mitbekommen von diesem ganzen Horror.. wir haben uns nicht getraut darüber zu sprechen. Wir wollten unsere Mutter nicht anschwärzen.
Auch heute weiß er nur die Hälfte von dem, was passiert ist.

Es ist gut so wie es ist und es hat so kommen müssen, damit ich heute die bin, die ich bin - und ich bin doch gut geworden, oder? Wink
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Lillian
Foren-Guru
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Anmeldungsdatum: 22.05.2013
Beiträge: 3894

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 12:14    Titel: Antworten mit Zitat

Wie Joe komme ich auch aus einer Suchtfamilie und bin mit 2 älteren Brüdern aufgewachsen. Eer eine auch Drogenabhängig jetzt aber nicht H oder Nadel und hat auch ne Psychose.

Bei uns war immer Party. Jeden Tag. Wir konnten nicht schlafen, weil die Musik so laut war, so das mein ältesterer Bruder der übrigens nicht Drogenabhängig sondern workaholic geworden ist,mich nachts mit in sein Auto nahm, damit wir ein wenig schlaf bekamen.

Meinen ersten brutalen Vollrausch hatte ich mit 7.Mein Bruder lässt sich nicht helfen und ich habe eh seit vielen Jahren keinen Kontakt zu meiner Familie. Mein Vater ist früh ausgezogen, weil unsere Mutter nymphomanisch veranlagt war und es ständig mit anderen Kerlen trieb. Wir haben das auch oft genug mitbekommen und es hat mich als Kind dermaßen angewidert, das könnt ihr euch ja denken.Wir 3 haben alle einen anderen Vater und mein Vater hat ne neue Frau mit der er auch eine Tochter hat. Sie ist natürlich die Beste, Schönste, Klügste und Beste von allen.
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Haschgetüm
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 12:23    Titel: Antworten mit Zitat

Schön das du das auch dich beziehen kannst lillian.
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Soltau
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Anmeldungsdatum: 06.11.2014
Beiträge: 1628

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 12:59    Titel: Antworten mit Zitat

Haschgetüm hat Folgendes geschrieben:

Es ist gut so wie es ist und es hat so kommen müssen, damit ich heute die bin, die ich bin - und ich bin doch gut geworden, oder? Wink


So meinte ich das auch nicht Haschi, natürlich bist du ein wertvoller Mensch! Ich wollte nur damit ausdrücken, dass für den ganzen Mist alleine deine Eltern verantwortlich sind, da sie die Verantwortung für ihre Kinder tragen.
Zum Glück hast du dieses Dilemma hinter dir und kannst nun deinen Leben für dich selbst gestalten.
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Haschgetüm
Platin-User
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 13:20    Titel: Antworten mit Zitat

Ich weiß wie du es meinst Wink ich weiß auch, dass ich keine Schuld trage. Heute weiß ich das.
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Haschgetüm
Platin-User
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 21:47    Titel: Antworten mit Zitat

Ich bin grade ehrlich gesagt etwas fassungslos.
Scheinbar haben schon über 300 Leute diese Seite hier aufgerufen.
Jetzt frage ich mich grade, ob ich nicht doch zu viele persönliche Details hier preisgebe. Es wäre vor allem für Dritte vielleicht unangenehm.
Ohje.
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Haschgetüm
Platin-User
Platin-User


Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 21:48    Titel: Antworten mit Zitat

Naja ok nicht zwangsläufig über 300 verschiedene Personen, aber dennoch. ^^
300 Aufrufe an einem Tag. *schluck* Ich hab da nie drauf geachtet.
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dakini
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Anmeldungsdatum: 07.04.2015
Beiträge: 3361

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 22:43    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Haschi,

das ist doch das nette hier - persönlich und kuschelig. Les Dich immer gern und freu mich ganz arg, dass Du die achtsame Ecke entdeckt hast. Eine Schatztruhe (Buddhismus, gewaltfreie Kommunikation,..-> Achtsamkeit) Smile Wink
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Haschgetüm
Platin-User
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Anmeldungsdatum: 26.03.2015
Beiträge: 2502

BeitragVerfasst am: 2. Dez 2016 22:53    Titel: Antworten mit Zitat

Ja, aber ich schreibe ja auch nicht ausschließlich nur über mich.
Wegen mir macht mir das nix, aber wenn ich mir vorstelle, dass sich jemand hier wiedererkennt, von dem ich schreibe? Was würde ich davon halten?
Moah... kleiner Panikanfall ^^
Ich werde versuchen mich in Zukunft auf mich selbst zu beschränken.
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